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Die zweite Kolumne*
The schizophrenic quotient

Ich habe einmal eine Ausstellung im öffentlichen Raum kuratiert (Transfert in Biel/Bienne, 2000), bei der die Vorgabe an die Künstler lautete: "Wenn es nach Kunst aussieht, ist es nicht gut genug." Merken Betrachter auf den ersten Blick, dass sie ein Kunstwerk vor sich haben, unterbindet das den Dialog mit der Umgebung (in diesem Fall dem urbanen Raum) und die daraus resultierende Spannung. Was mich interessiert, ist eben dieser Moment der Spannung, in dem wir argwöhnen, dass das Werk etwas anderes sein könnte – eine Empfindung wie bei Blade Runner, wo man ja ständig unsicher ist, ob man Menschen oder Replikanten sieht. Keine sichtbaren Merkmale, keine verlässlichen Kriterien können bei der Entscheidung helfen. Es ist ein permanentes Hin und Her zwischen Möglichem und Unmöglichem, zwischen Tatsächlichem und dem Wahrscheinlichem, und diese Oszillation bewirkt eine Spannung, einen konstanten Austausch zwischen gegensätzlichen Polen, der dem Kunstwerk Dichte und Relevanz gibt.

Gianni Motti ist ein Künstler, der diesen Zustand der Unentschiedenheit bzw. Unbestimmtheit großartig aufrechtzuerhalten weiß. So fand er etwa heraus, dass Berlusconi sich in einer Schweizer Privatklinik in Lugano einer Fettabsaugung unterziehen wollte. Da Motti eine Krankenschwester an der Klinik kannte, gelang es ihm, an Berlusconis Fettgewebe zu kommen; er verarbeitete es zu einem Seifenstück und betitelte es "Mani Pulite" (Saubere Hände). Das entfachte in der italienischen Presse natürlich einen Skandal; man unterstellte Motti Betrug, woraufhin er seine Kritiker aufforderte, an der Seife einen DNA-Test vorzunehmen. Letztlich ließ man die Sache auf sich beruhen, weil die Situation definitiv zu peinlich geworden wäre, denn um die Testergebnisse vergleichen zu können, hätte man Berlusconi ja um ein Haar oder eine Gewebeprobe bitten müssen ... In solchen Situationen bleibt ungeklärt, ob etwas real ist oder nicht; Beweise gibt es nicht und man kommt nicht weiter. Interessant an einem Kunstwerk ist genau dieses Moment des Potenziellen, dieses Paradoxon zwischen Offensichtlich-Spektakulärem und diskret Verheimlichtem, in dem sich die Wichtigkeit dessen offenbart, was ich den "schizophrenen Quotienten" eines Werks nennen würde.

Schizophrenie ist wortwörtlich verstanden eine Art Spaltung im Kopf, bei der das Hirn außer Stande ist, dauerhaft bei einem bestimmten Punkt zu bleiben. Ohne innehalten zu können, schweift es folglich permanent von einer Weltsicht zur anderen. Im unkonditionierten Zustand ist ein Hirn wie ein unendliches Feld von permanenten Verbindungen; wie es an einem bestimmten Punkt festhalten kann, lernt es kulturell bedingt durch Denken in Kategorien und Glaubenssysteme. So kann es zwar lernen zu funktionieren und letztlich zu überleben, doch wenn wir eine Ausstellung anschauen, müssen wir unsere ganz persönliche Art, schizophren zu sehen, aktivieren. Denn obwohl wir über 500 Jahre versucht haben, uns zu erziehen, indem wir Bilder durch Rahmen isolierten und so einen beruhigenden "Fensterblick" schufen (im 19. Jh. brachte man es sogar fertig, gut 50 Bilder an einer einzigen Wand gehängt auszustellen und vom einen zum anderen zu wechseln, indem man sich auf eines konzentrierte und die übrigen so lange ausblendete), so ist das heute nicht mehr möglich. Seit über 50 Jahren nämlich zwingen uns viele Künstler, unser schizophrenes Sehen zu schulen. In der Minimal Art etwa mag ein Künstler ein unbedeutendes Objekt präsentieren, das uns geradezu nötigt, anderswo hinzusehen – vor allem, weil man nicht viel anderes tun kann als mit den Blicken vom Objekt zum Boden, vom Boden zur Decke, von der Decke in die Luft, von der Luft zu den Besuchern etc. zu wandern. In heutigen Ausstellungen funktioniert es nicht mehr, sich nur auf einen isolierten Punkt zu konzentrieren, sondern man schweift von einem Punkt zum anderen, und meiner Meinung nach ist dieses Schweifen, Gleiten, dieses dynamische Sehen, heute ein entscheidender Faktor bei der Annäherung an ein Kunstwerk. Die zur emotionalen, psychischen und intellekturellen Rezeption eines Werks nötigen interpretativen Systeme müssen der Art und Weise angemessen sein, in der wir uns Werken in einer Ausstellung physisch nähern und sie betrachten.

Heute ist vor allem dieser Zusammenhang von Interesse. Wir müssen Ausstellungen physisch durchmessen, durch sie hindurchlaufen, in ihnen umherlaufen, um – auf rein kinästhetischer Ebene – unser System der Verbindungen zu aktivieren. Die Ausstellung aktiviert einen bestimmten Typus von Verbindung; deshalb ist eine Ausstellung ein einzigartiges Medium mit ganz eigenen physischen Qualitäten und nicht einfach nur eine Anordnung von Werken. Eine Ausstellung besitzt spezifische Eigenschaften: Sie ist der Raum, durch den die Besucher gehen und der ihnen ermöglicht, sowohl intellektuell als auch körperlich Verbindungen herzustellen.

Marc-Olivier Wahler
November 2008


* In unregelmäßigen Abständen publiziert die Kunsthalle Fridericianum eine Webkolumne. Die zweite Kolumne wurde vom Direktor des Palais de Tokyo Marc-Olivier Wahler verfasst.

Marc-Olivier Wahler
Foto: Francis Vernhet

Marc-Olivier Wahler


Marc-Olivier Wahler ist Leiter und Kurator des Palais de Tokyo in Paris, wo er Gruppenausstellungen wie Five Billion Years (2006) und zahlreiche Einzel- ausstellungen kuratiert hat, u.a. von Tatiana Trouvé, Peter Coffin und Steven Parrino (2007), oder Loris Gréaud, Jonathan Monk und Christoph Büchel (2008).

Von 2000 bis 2006 leitete er das New Yorker SI (Swiss Institute – Contemporary Art). 1994 war er an der Gründung des CAN (Centre d'art Neuchâtel) beteiligt, das er bis 2000 leitete. In rund 15 Jahren hat er über 200 Ausstellungen organisiert, darunter Transfert – Kunst im urbanen Raum in Biel/Bienne (2000), Liquid Sky im FRAC Bourgogne (2003), Extra, Space Boomerang und OK am SI und OKAY in der New Yorker NYU Grey Art Gallery (2005). Als Kunstkritiker schreibt er regelmäßig über Gegenwartskunst, daneben aber auch zu Themen wie Mike Tyson, Tarnkappen- bombern, Hells Angels, Quantenphysik oder Zombies.
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