DEU | ENG
Die vierte Kolumne*
Große Gesten, neue Zeichen

Vor ziemlich genau zwei Jahren schrieb ich meine erste Webkolumne. Im Vorfeld des neuen Ausstellungsprogramms formulierte ich ambitionierte Ziele. Menschlich, human sollte die Kunst im Fridericianum sein, „ein Plädoyer für die noch zu formulierenden Voraussetzungen einer Menschlichkeit des einundzwanzigsten Jahrhunderts“. Nicht ganz ungefährlich, möglichst mutig und hier und da auch provokativ sollte die Zukunft in der Kunsthalle Fridericianum sein.

Damals waren wir inmitten der Vorbereitungen zur Ausstellung Deutsche Grammatik von Christoph Büchel. In einer solchen Phase ist noch vieles unsicher, vor allem wenn eine Ausstellung nahezu komplett vor Ort produziert wird. In der Kunsthalle Fridericianum haben wir es uns nämlich zum Ziel gesetzt die größeren Gesten ins große Haus zu holen; kräftige Zeichen zu setzen; stets Neues herauszufordern; nicht wie ich des Öfteren beschwöre, die „Spediteure und Kistenbauer dieser Welt zu bereichern“, sondern in einem engen Dialog zwischen Künstler/in, Kuratorium und Raum vor Ort neue Botschaften in die Welt zu setzen.

Büchels Ausstellung, die das gesamte Haus mitsamt Friedrichsplatz bespielte, wurde zu einer echten Ansammlung solcher neuen Botschaften. Mit obsessiver Detailversessenheit konfrontierte er tout Kassel und Deutschland mit einer Vision deutscher Tugenden und Untugenden, die sich durch die zeitweilige nicht-museale Zwischennutzung des Museum Fridericianum quasi ins Haus einmieten durften. So konnte sich eine Fußgängerzonenästhetik im Haus der Aufklärung breit machen, wie auch ein Teil der jüngeren Geschichte des Landes, die Überreste einer musealen Tradition und zudem ein Abbild deutscher Demokratie. Vor allem mit dem letzten Part, realisiert in Form der ersten Parteienmesse Deutschlands mit achtunddreißig teilnehmenden Parteien, entstand ein äußerst heftiger Dialog zwischen den oben erwähnten Partnern - Künstler, Kuratorium und Raum. Büchels politica berührte über dieses dialogische Dreieck hinaus auch die Gemüter der Besucher/innen, der Politiker/innen und der Journalist/innen und stellte die Frage nach der Freiheit und Autonomie der Kunst eingehend und aufs Kräftigste. Übrigens fand die erste politica im Begleitprogramm der Deutschen Grammatik statt, wie einst die erste documenta im Begleitprogramm der Bundesgartenschau veranstaltet wurde. 

Nachdem Büchels Deutsche Grammatik ausgezogen war, erhielt das Haus schnell wieder seine Funktion als Kunsthalle zurück. Mit unter anderen Daniel Knorr, Klara Lidén, Pawel Althamer, Latifa Echakhch und Navid Nuur sind wir momentan, auf halbem Weg der Spielzeit bis zur nächsten documenta, bei der Ausstellung (WHITE REFORMATION CO-OP) MENS SANA IN CORPORE SANO von Thomas Zipp angelangt. Wieder ist die ganze Kunsthalle von einer Künstlerposition vereinnahmt worden. Zipp hinterfragt zutiefst menschliche Themen wie Norm und Abweichung, Macht und Hierarchie, Wahnsinn und Normalität in einer Gesamtkonzeption, die sich in Form einer Vision einer psychiatrischen Anstalt manifestiert. Auch Zipp bespielt, wie Büchel, den Außenraum und auch Zipp besetzt, wie schon Büchel, die neoklassizistische Fassade und die Eintrittshalle. Im Zeichen einer fiktionalen Verwandlung der Funktion des Gebäudes kommen sich beide Positionen nahe. Aber die fiktionale Realitätsnähe eines Büchels führte zu einer gänzlich anderen Raumwahrnehmung als die kulissenhafte Theatralität von Zipp. Die architektonischen Versatzstücke Zipps lassen die Betrachter/innen jedoch genauso in eine künstlerische und künstliche Welt eintauchen wie die naturgetreuen Stasischnipsel auf der realen Kegelbahn im fingierten Kneipenambiente von Büchel. Vereinnahmend, verwirrend, bewegend und konfrontierend sind die großen Gesten beider Künstler. So wie dies eigentlich auch bei Althamer, Assaël, Lidén, Gaba, Echakhch, Nuur u.a. in unterschiedlichen Gradierungen der Fall war.

Mit der eben beschriebenen künstlerischen Praxis - mit größtmöglicher Nähe zum Raum -, lässt sich als Ausstellungsmacher gut arbeiten, soviel ist mir in den ersten zwei Jahren meiner Kasseler Tätigkeit klar geworden. Am 26. und 27. März dieses Jahres veranstalteten wir in Kooperation mit der Zürcher Hochschule der Künste ein Symposium mit dem Titel Institution as Medium. Curating as Institutional Critique? Im Rahmen dieser Tagung konnte ich mit San Keller unser zweites öffentliches Vorbereitungsgespräch Pre-, Pre-, Pre-, Preview vor einem Fachpublikum von fast zweihundert (angehenden) Kurator/innen führen. Mir wurde dort klar, dass in der Kunsthalle Fridericianum die ominöse institutionelle Kritik ausschließlich über die Künstlerpositionen funktionieren kann; nicht über die kritischen Theorien des Kurators. In unseren Augen ist und bleibt es nämlich überaus wichtig, im genannten Dreieck von Künstler/in, Kurator/in und Raum die Bedingungen für die künstlerischen Gesten und Zeichen möglichst optimal zu gestalten, damit Ausstellungen wie die oben erwähnte zuerst einmal realisiert und in der Folge im durch die Besucher/innen zum Viereck erweiterten Dreieck wirksam werden können.         

Menschlich und human soll die Kunst im Fridericianum auch weiterhin sein. In meiner ersten Kolumne fehlte in diesem Zusammenhang ein Begriff, den ich hier noch gerne platzieren möchte. Malraux‘ condition humaine als Andeutung für eine existenzialistische Standortbestimmung im globalen Zeitgefüge. So mögen auch unsere künftigen Ausstellungen im weiteren Sinne um diesen Begriff kreisen.

Rein Wolfs
April 2010


* In unregelmäßigen Abständen publiziert die Kunsthalle Fridericianum eine Webkolumne. Die vierte Kolumne wurde vom Künstlerischen Leiter Rein Wolfs verfasst.
Rein Wolfs mit Thomas Zipp, 'BLACK PATTEX', 2008.
Foto: Mario Zgoll

Rein Wolfs



Rein Wolfs ist seit Januar 2008 künstlerischer Leiter der Kunsthalle Fridericianum. Von 2002 bis 2007 war er Ausstellungsdirektor im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam. 2003 kuratierte er den niederländischen Pavillon bei der Venedig Biennale. 1996 bis 2001 war er der erste Direktor des Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich.

Zu seinen wichtigsten kuratorischen Projekten zählen Ausstellungen mit Douglas Gordon, Maurizio Cattelan, Angela Bulloch und Cady Noland im Migros Museum und Retrospektiven mit Bas Jan Ader und Rirkrit Tiravanija sowie Großausstellungen mit Urs Fischer und Erik van Lieshout im Museum Boijmans Van Beuningen. In der Kunsthalle Fridericianum kuratierte er große Einzelausstellungen von Christoph Büchel, Pawel Althamer, Teresa Margolles, Thomas Zipp, Monica Bonvicini und Danh Vo, ebenso wie Positionen junger Künstler wie u.a. Klara Lidén, Latifa Echakhch, Cyprien Gaillard, Nina Canell und Navid Nuur. Für 2012 bereitet er eine Ausstellung mit dem Titel 'The New Public' für das Museion in Bozen vor.


OK

Es handelt sich um eine historische Website. Hier erhalten Sie jeweils Details zum Impressum, Datenschutz und weitere Informationen.