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Kunsthalle Fridericianum
Die fünfte Kolumne*
Die Sprengkraft einer Smith Corona

Mit der Rekonstruktion und gleichzeitigen Dekonstruktion der Statue of Liberty durch Danh Vo markiert die Kunsthalle Fridericianum ein weiteres Mal die bewegte Historie ihres Gebäudes als Ikone der deutschen Aufklärung und Träger mehrdeutig zu beurteilender Geschichte. Laut Aussage des Künstlers waren es zuerst die großzügigen Räumlichkeiten des Museum Fridericianum, die ihn dazu herausforderten eine Arbeit zu produzieren, die die Dimensionen zeitgenössischer Skulptur sprengt und im geschichtlichen Kontinuum an kolossale Bildhauerwerke, etwa die der frühen Ägypter denken lässt. Ebenso wichtig sind die Analogie bestimmter Jahreszahlen, die Ähnlichkeit gedankenphilosophischer Ausrichtungen, sowie eine vergleichbare Ausstrahlung von Freiheitsstatue und Fridericianum als Alleinstellungsmerkmale ihrer Epoche im jeweiligen geopolitischen Raum.

Nehmen wir die Jahreszahlen: 1776 wurde die amerikanische Unabhängigkeit verkündet, 1779 das Fridericianum als erstes öffentliches Museumsgebäude auf dem europäischen Festland eröffnet, 1886 die Freiheitsstatue zum 110jährigen Jubiläum der amerikanischen Unabhängigkeit eingeweiht. Erweitern wir diese Zahlen um einige historische Überlegungen und Beobachtungen: Landgraf Friedrich II. konnte das klassizistische Museumsgebäude, das seit der ersten documenta im Jahr 1955 das zeitgenössische Kunstgeschehen entscheidend mitbestimmt, zu einem beträchtlichen Teil durch Einkünfte aus der Vermietung von Söldnern an die Engländer in ihrem Kampf gegen die amerikanischen Freiheitskämpfer finanzieren. Im Übrigen stand dem Schöpfer der Freiheitsstatue Frédéric-Auguste Bartholdi unter anderem auch die 1717 aus Kupferplatten getriebene kolossale Kasseler Herkules-Skulptur Pate.

In Einzelteile zerlegt erstreckt sich Danh Vos WE THE PEOPLE über die weiten Ausstellungsräume des Fridericianum, die mittlerweile stilistisch von der industriellen Architektur der 70er Jahre geprägt sind. An einen terroristischen Anschlag erinnernd, förmlich über die Räume versprengt, öffnet sich ein chaotischer Wald von unscheinbaren und auffälligen, von abstrakten und figurativen sowie sperrigen und ästhetischen Kupferskulpturen. Die terroristischen Akte von 9/11 sorgten für Angst vor weiteren Anschlägen und waren somit auch Auslöser für eine gründliche Kartierung sämtlicher ikonischer Gebäude und Denkmäler der USA, um sie im Ernstfall rekonstruieren zu können. Auch darauf deutet Danh Vos eigene Rekonstruktion der Miss Liberty. Und auch an anderer Stelle ist Terror in der Ausstellung präsent: in Form der originalen Smith Corona-Schreibmaschine des Unabombers Theodore Kaczynski. Aus dem nostalgisch anmutenden Gerät heraus entfaltet sich konzeptuell eine imaginäre Sprengkraft, die die 31 Tonnen schwere Kupferhaut der Miss Liberty zu einem faszinierenden Skulpturenpark moderner Prägung verwandelt. WE THE PEOPLE vermittelt in all seiner zerlegten Monumentalität und zugleich fragilen, kaum mehr als 2 mm starken „Dünnhäutigkeit“ die universelle Zerbrechlichkeit und musealisierte Ewigkeit unserer heutigen „Condition humaine“.

Menschlich, human beschrieb ich in meiner ersten Kolumne 2008 die Kunst, die im Fridericianum zu sehen sein sollte, „ein Plädoyer für die noch zu formulierenden Voraussetzungen einer Menschlichkeit des 21. Jahrhunderts“. In der vierten Kolumne 2010 ergänzte ich diesen Anspruch mit dem Erinnern an Malraux‘ „Condition humaine“ um die Frage nach einer grundsätzlichen Standortbestimmung im globalen Zeitgefüge zu stellen. Gerade die großen Ausstellungen von Christoph Büchel, Thomas Zipp, Teresa Margolles und Danh Vo verleiteten zur Bezugnahme auf existentialistische Leitgedanken, so dass sich rückblickend ein Kreis zu schließen scheint. Danh Vo fokussiert in diesem Kontext explizit auf die Freiheit, auf ihre Facetten und auf unterschiedliche Auslegungen des Begriffs. Nicht zuletzt meint Freiheit im existentialistischen Sinne auch ihre Bürde, die aus ihr resultierende Verantwortung, die mit der menschlichen Vernunftbegabung einhergeht.

Vos Ausstellung mit dem Titel JULY, IV, MDCCLXXVI markiert das programmatische Schlussstatement einer ersten Reihe von Solo-Ausstellungen, die allesamt die aktuelle und gleichzeitig auch universelle menschliche Existenz und ihr Wesen thematisieren. Christoph Büchel, Pawel Althamer, Thomas Zipp, Klara Lidén, Latifa Echakhch, Navid Nuur, Matias Faldbakken, Teresa Margolles, Andro Wekua und anderen mehr haben das älteste öffentliche Museumsgebäude auf dem europäischen Festland unter Strom gesetzt und sozusagen „performed“. Vos Beschäftigung mit Freiheit, Revolution, Utopie und Terrorismus fungiert wie eine Verhandlung mit einigen der grundsätzlichen Aspekte dieser historischen Stätte und positioniert Kassel im Zentrum globaler Politik.

Im documenta-Jahr 2012 pausiert die Kunsthalle Fridericianum. In dieser Zeit werde ich eine Ausstellung unter dem Titel The New Public im Museion in Bozen kuratieren und verschiedenen Lehraufträgen an Hochschulen und Universitäten nachgehen, um Ideen und Anregungen für die nächste Periode zu sammeln. Ein Buch, das die Jahre 2008-2011 dokumentiert, ist in Vorbereitung. Ab 2013 nimmt die Kunsthalle ihren Betrieb wieder auf und dann sollen Danh Vos aktuellem Statement im Fridericianum elektrisierende Untersuchungen nach dem menschlichen Sein folgen.

Rein Wolfs
November 2011


* In unregelmäßigen Abständen publiziert die Kunsthalle Fridericianum eine Webkolumne. Die fünfte Kolumne wurde vom Künstlerischen Leiter Rein Wolfs verfasst.
Danh Vo, JULY, IV, MDCCLXXVI, 2011
Foto: Nils Klinger

Rein Wolfs



Rein Wolfs ist seit Januar 2008 künstlerischer Leiter der Kunsthalle Fridericianum. Von 2002 bis 2007 war er Ausstellungsdirektor im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam. 2003 kuratierte er den niederländischen Pavillon bei der Venedig Biennale. 1996 bis 2001 war er der erste Direktor des Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich.

Zu seinen wichtigsten kuratorischen Projekten zählen Ausstellungen mit Douglas Gordon, Maurizio Cattelan, Angela Bulloch und Cady Noland im Migros Museum und Retrospektiven mit Bas Jan Ader und Rirkrit Tiravanija sowie Großausstellungen mit Urs Fischer und Erik van Lieshout im Museum Boijmans Van Beuningen. In der Kunsthalle Fridericianum kuratierte er große Einzelausstellungen von Christoph Büchel, Pawel Althamer, Teresa Margolles, Thomas Zipp, Monica Bonvicini und Danh Vo, ebenso wie Positionen junger Künstler wie u.a. Klara Lidén, Latifa Echakhch, Cyprien Gaillard, Nina Canell und Navid Nuur. Für 2012 bereitet er eine Ausstellung mit dem Titel 'The New Public' für das Museion in Bozen vor.