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Die dritte Kolumne*
LESS OIL MORE COURAGE – ein Rückblick mit Perspektiven

„Ist das tatsächlich so platt gemeint wie es aussieht?“ fragte mich ein Freund während wir vor „LESS OIL MORE COURAGE“ von Rirkrit Tiravanija in der Rotunde des Fridericianums standen. Auf 30 Metern Länge und in einer Höhe von fast 5 Metern erstreckte sich diese Wandarbeit in ihrem tiefen Schwarz vor unseren Augen. Und im Zentrum der Rundung strahlte diese Mitteilung. Eine Haltung, ein Hinweis, eine Mahnung?
Rirkrit Tiravanija erzählt, dass er selbst zufällig auf diese Worte gestoßen sei, als er vor einigen Jahren die Einladung zu einer retrospektiven Ausstellung des jung verstorbenen Malers Peter Cain erhielt. „More Courage and Less Oil“ war der Titel der Ausstellung, die fünf Jahre nach dem Tod des als „car painter“ mehr oder weniger bekannt gewordenen Amerikaners in dessen Galerie gezeigt wurde. Peter Cain malte in Öl, und zwar großformatige Abbildungen von gedrungenen, leicht surrealistisch wirkenden Autos, mal deren Front, mal deren Heck, manchmal auf die Seite gekippt und auf nur einem Rad balancierend – aber immer ohne Menschen. Cain arbeitete lange an einem Bild und malte sehr präzise, akribisch, so dass er dem Fotorealismus nahe kam. In seinem artist notebook fand man den Eintrag „More Courage and Less Oil“ und in der rückblickenden Betrachtung seines Oeuvres wurde deutlich, dass er sich kurze Zeit vor seinem Tod auf der Schwelle einer Weiterentwicklung befand. Gerade fertig gestellt waren Bilder, die seinen Partner Sean zeigen.

Die an sich selbst gerichtete Notiz diente als Abbildung auf Cains Einladung und Rirkrit Tiravanija inspirierten diese Worte, aber auch das Spiel mit ihnen. Kehrt man sie um, so erweitert sich ihr inhaltlicher Bezug. „LESS OIL MORE COURAGE“ zeigte Tiravanija dann selbst erstmalig einem Weltpublikum im italienischen Pavillon der 50. Venedig Biennale. Ein kleines Bild mit weißen Buchstaben auf schwarzem Grund. Vier Jahre später erhielt diese Arbeit einen nochmals erweiterten Bezug als er auf der Sharjah Biennale nicht nur dieses kleine Bild im Treppenhaus neben Ölgemälden, die Scheiche abbildeten, platzierte, sondern als Plakat auf Billboards in die breite Öffentlichkeit dieser von Öl profitierenden, wohlhabenden Stadt trug.

Tiravanijas Kunst ist immer nah am Menschen. Er interessiert sich für Öffentlichkeit und für gesellschaftliche Situationen, für Raum, den er umfunktioniert, er interessiert sich für alltägliche Aktivitäten, und die Menschen, die sie verrichten. Im Kölnischen Kunstverein baute er seine New Yorker Wohnung maßstabsgetreu nach und lud die Besucher in das 24 Stunden geöffnete Haus ein, sich in ihm aufzuhalten, zu essen, zu reden, Musik zu hören oder zu schlafen. Er richtete einen regulär funktionierenden Supermarkt im Zürcher Migros Museum ein und wurde weltbekannt für seine Garküchen. Diese Arbeiten liegen mittlerweile schon ein Jahrzehnt zurück, aber sie sind auch heute eine unkonventionelle, mutige Kunst. So wie auch sein Projekt „The Land“, das er seit 1998 als Ort sozialen Engagements, als wahrhaftigen Ort der Begegnung und des Experimentierens, als eine Art Lab gemeinsam mit befreundeten Künstlern wie Philippe Parreno und Superflex betreibt. Auf einem ehemaligen Reisfeld treffen Künstler, Studierende und Bewohner Chang Mais zusammen. Sie leben und arbeiten dort, bauen Getreide und Obst an, sie experimentieren architektonisch und künstlerisch.

Das in der Moderne geborene Streben nach einer Vermischung von Kunst und Leben wird in den Arbeiten Tiravanijas umgesetzt und real. Diese intensive Verwebung hat Kritiker. Sie sprechen von veralteten Utopien, von überkommenen Sichtweisen und einer obsoleten Kunstpraxis, die im Zeitalter der postmodernen Zerstreuung und gesellschaftlichen Neustrukturierung nicht mehr zeitgemäß sei. Aber ist es nicht gerade heute wichtiger denn je, Möglichkeiten aufzuzeigen und Räume zu schaffen, um über sich selbst, über soziales Geschehen und Politik zu reflektieren? Tiravanijas Kunst tut dies und er verfolgt eine Kunstpraxis, die in Zeiten einer globalen Krise nicht aktueller sein kann.

Rein Wolfs und Rirkrit Tiravanija kennen sich schon seit vielen Jahren, sie sind Freunde und entstammen der gleichen Generation. Mit dem Beginn der künstlerischen Leitung von Rein Wolfs am Fridericianum hat sich diese vermeintlich moderne Praxis des Alltäglichen in der Kunst neu verortet, neue Dimensionen erhalten und Perspektiven eröffnet, die auch von einer jüngeren Künstlergeneration verfolgt werden. Das Fridericianum bietet hierfür einen idealen Ort. Ein Haus, das gerade seinen 230. Geburtstag als Museum feierte, eine Vergangenheit als ambivalente Bildungsstätte aus Zeiten der deutschen Aufklärung in sich trägt, das das zentrale Gebäude der documenta-Ausstellungen ist und in einer Stadt positioniert ist, deren Selbstbewusstsein hinkt. Kassel liegt in der Mitte des Landes und dennoch in der Provinz. An diesem Ort auf gesellschaftliches Geschehen und das Leben aufmerksam zu machen und dabei über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, durch radikale künstlerischen Positionen Diskurse anzuregen und Fragen zu stellen, nur dies kann ein aktuelles Ziel sein.

Dies tat zweifellos und in äußerster Konsequenz bereits Christoph Büchel mit seiner viel besprochenen Ausstellung (er möge mir den Begriff an dieser Stelle verzeihen) „Deutsche Grammatik“. Der künstlerische Eingriff in das Leben, genauso wie umgekehrt, ging bei Büchel so weit, dass sich Passanten darüber echauffierten, die Stadt habe sich nun soweit herabgelassen, dass sogar eine wichtige Stätte der Kunst wie das Fridericianum als Ort für einen Euro-Discounter herhalten müsse. Es folgte Daniel Knorr mit einer vierwöchigen performativen Arbeit, mit der er durch mehrere inhaltliche Ebenen Produktionsketten kreierte und auf geschichtliche Prozesse verwies. Das Fließen der Zeit, das Bilden von Geschichte, Rückblick und Neuanfang waren seine Themen. Klara Lidén arbeitet mit Räumen, beengt, verdunkelt und erhellt, umstrukturiert. Soziales Geschehen und individuelle Verortung lässt sie die Besucher in begehbaren Installationen erfahren. Mit ihrer Kasseler Arbeit „NEVER COME BACK“ hatte sie in der Kunstwelt für Aufsehen gesorgt und die Besucher kämpften gegen ein klaustrophobisches Gefühl. Die Bildwelten von Cyprien Gaillard erschienen diesbezüglich greifbarer zu sein, hatte man es doch mit bekannten Medien zu tun. Aber auch er setzte sich kritisch beobachtend und dokumentierend mit momentanen Lebenswelten auseinander, mit menschlicher Zerstörung, Verfall und sozialem Misslingen, wenn er uns symbolisch mit gescheiterten Utopien konfrontiert und uns die Ruinen dieser Welt vor Augen führt. Diese Form der künstlerischen Haltung, des direkten Umgangs mit dem Leben in all seinen Facetten, wurde  in der gerade zu Ende gegangenen Ausstellung „Frühling“ von Pawel Althamer vehement untermauert. Er lud Kasseler Kinder ein, die Räume des Fridericianums über die gesamte Ausstellungsperiode hindurch zu besetzen, zu gestalten, in ihnen zu schlafen und in ihnen Aktivitäten und nicht Kunst im konventionellen Sinn auszuüben. Da wurden die Aufrufe laut und verwirrt nach der „Kunst“ gesucht.

Es ist zu vermuten, dass auch in Zukunft wenig Ölgemälde im Fridericianum gezeigt werden und tatsächlich das Risiko eingegangen wird, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen, nicht modern, sondern aktuell und direkt. Ich denke, dass dies die Aufgabe der Kunst ist, nach wie vor. Die Wandarbeit „LESS OIL MORE COURAGE“ – so viel wird an dieser Stelle verraten – ist überstrichen worden, aber ihre Aussage bleibt, auch wenn sie in ihrer Oberfläche „platt“ erscheinen mag.

Andrea Linnenkohl
Juli 2009

* In unregelmäßigen Abständen publiziert die Kunsthalle Fridericianum eine Webkolumne.

Andrea Linnenkohl


Andrea Linnenkohl studierte Kunstgeschichte, Soziologie und Kulturanthropologie und ist seit Beginn der künstlerischen Leitung von Rein Wolfs kuratorische Assistentin an der Kunsthalle Fridericianum. 2007 war sie die Assistentin des technischen Leiters der documenta 12.  Zuvor arbeitete sie im Team von René Block und war organisatorisch an Ausstellungen, Nebenprogramm und redaktionell in den Ausstellungskatalogen involviert. 2006 war sie u.a. an der Realisation des Belgrader Oktober Salons unter der künstlerischen Leitung von René Block beteiligt.


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